Ein Besuch aus einer anderen Welt. Von den Archiv-Anwärter*innen des 58. Fachhochschullehrgangs der Archivschule Marburg
Wer sind wir?
„Aha, und was macht man da?“ Das dürfte wohl die häufigste Reaktion auf die Aussage sein, man werde Archivar*in. Und selbst beim zehnten Mal fällt es schwer, eine kurze, aber einigermaßen vollständige Antwort darauf zu finden. Archive bewahren Geschichte, sie bieten einen Zugang zur Vergangenheit. Archivar*innen entscheiden, welche Geschichte erhalten bleibt. Das alles ist sicher richtig, aber immer noch nur ein kleiner Teil unserer Arbeit. Nicht zuletzt, weil Archiv nicht gleich Archiv ist. Wir Anwärter*innen des 58. Fachhochschullehrgangs (FHL) der Archivschule Marburg absolvieren unsere Ausbildung in Staats- und Landesarchiven aus der ganzen Republik, von Stuttgart bis Hamburg und von Koblenz bis Dresden. In unseren Heimatarchiven erhalten wir praktische Erfahrung in der staatlichen Archivverwaltung, je nach Bundesland und Coronalage auch einen kleinen Blick in die kommunale Verwaltung. Aber unsere Ausbildung soll uns nicht nur auf die praktische Arbeit in diesem einen Archiv vorbereiten. An der Archivschule in Marburg wird deshalb das praktische Wissen mit theoretischem Grundwissen unterfüttert. Dies beinhaltet auch den Blick über die Erfahrungen des eigenen Archivs hinaus. Sei es durch das Zusammenbringen mit den Anwärter*innen aus anderen Bundesländern, durch das Einladen von Gastdozent*innen aus ganz unterschiedlichen Bereichen oder eben Exkursionen. Leider konnten im Coronajahr keine Tagesexkursionen, sondern nur unsere große Exkursion vom 04. bis 08. Oktober 2021 nach Leipzig stattfinden, aus der wir jedoch umso mehr mitnehmen wollten.
Warum Leipzig?
Als historisch interessierte Archivar*innen fiel die Wahl des Ziels schnell auf Leipzig mit seiner bewegten Vergangenheit. Nach der ersten schriftlichen Erwähnung im Jahr 1015 erhielt der Ort 1165 das Stadtrecht. Die Zäsur, die jeder Sachse kennt, ist die Leipziger Teilung 1485 zwischen den beiden Wettinern Ernst und Albrecht. 1497 wurde Leipzig zur Messestadt – und in der Folge zu einer der bedeutendsten Messen Mitteleuropas. Die Stadt hielt 1547 einer Belagerung des Schmalkaldischen Bundes erfolgreich stand und auch der Dreißigjährige Krieg tobte mit der Schlacht bei Lützen am 16. November 1632 nahe Leipzig und brachte Gustav II. Adolf den Tod. Doch das wohl berühmteste Ereignis in Leipzig fand am 16. Oktober 1813 mit der sogenannten Völkerschlacht statt, eine Entscheidungsschlacht der Napoleonischen Befreiungskriege, an die noch heute ein Denkmal von monumentaler Größe erinnert. 1865 wurde mit der Gründung des Allgemeinen Deutschen Frauenvereins durch Louise Otto-Peters und ihren Mitstreiterinnen die organisierte deutsche Frauenbewegung in Leipzig aus der Taufe gehoben. In der jüngeren Vergangenheit wurde Leipzig als einer der wichtigsten Schauplätze der friedlichen Revolution 1989/90 bekannt. Aufgrund dieser ereignisreichen Historie begründet die Metropole ein Zentrum der Wirtschaft, des Handels und Verkehrs, der Verwaltung sowie Kultur und Bildung nicht nur für Sachsen sondern ganz Mitteldeutschland.
Doch unser Fokus lag auf der breiten Archiv- und Medienlandschaft, die in Leipzig Moderne (MDR, Mustermesse, Deutsche Nationalbibliothek) und Vergangenheit (Staatsarchiv, Stadtarchiv, Wirtschaftsarchiv) in Verbindung bringt. Um dem gerecht zu werden, suchte unser Kurs große Häuser, wie die Abteilung Stasiunterlagenarchiv des Bundesarchivs in der Runden Ecke, das Staatsarchiv Leipzig, das Stadtarchiv Leipzig (Abb. 2) und die Deutsche Nationalbibliothek auf. Weiterhin sah der Plan kleinere und freie Archive vor, wie das Archiv Bürgerbewegung im Haus der Demokratie. Diese Institution wurde 1991 in einer privaten Wohnung der Leipziger Südvorstadt gegründet, um schriftliche Zeugnisse oppositioneller Gruppierungen aus der DDR zu sammeln, zu sichern, zu erschließen und der Öffentlichkeit dauerhaft zugänglich zu machen. Auch der Infoladen im Conne Island (Abb. 3) öffnete uns die Pforten. Die Infoladenkultur der 80er Jahre in der BRD machte auch innerhalb der autonomen Szene in Leipzig Schule und beherbergt einen bibliothekarischen Bestand von ca. 8750 Medien. Hinzu kommen unikale Dokumente aus der Hausbesetzerszene der frühen 90er Jahre, sodass der Infoladen einen hybriden Archiv-Bibliotheks-Charakter aufweist. Zu guter Letzt, doch stellt dies selbstverständlich keine Hierarchie dar, führte uns der Weg in das Archiv der Louise-Otto-Peters-Gesellschaft e.V. im Haus des Buches. Der Auftrag, das Leben und Wirken der sozialkritischen Schriftstellerin, Demokratin, und Mitbegründerin der Frauenbewegung Louise Otto-Peters einer breiten Öffentlichkeit bekannt und zugänglich zu machen, ist hier allgegenwärtig. Doch handelt es sich nicht um ein statisches Archiv im herkömmlichen Sinne. Das Engagement reicht von den jährlichen Louise-Otto-Peters-Tagen über das LOUISEum, bis hin zu Louise-Otto-Peters-Spaziergängen vorbei an Stätten der Erinnerung an die Namensgeberin und ihre Mitstreiterinnen. Als Intermezzo wartete unsere Exkursion mit einem Tagesausflug nach Mittelsachsen ins beschauliche Leisnig auf. Dort hieß uns das größte Sicherheitsarchiv für medizinische Akten Europas, das DMI-Archiv willkommen. Innerhalb dieses imposanten Betriebes erhielten wir einen exklusiven Einblick in die privatwirtschaftlich gelöste medizinische Dokumentation. Selbst der Rückweg nach Marburg am Freitag hielt eine Station in Jena bereit, wo uns die Firmenarchivarin der Schott AG willkommen hieß.
Warum ausgerechnet freie Archive?
Worin aber bestand für uns der Antrieb, gerade auch freie Archive zu besuchen? Kurzum: Sie bilden einen Teil der Gesellschaft ab, der von der Überlieferung staatlicher Archive oft vernachlässigt und kaum erfasst wird. Während staatliche Archive auf Grundlage der einschlägigen Archivgesetze arbeiten und in erster Linie behördliche Überlieferungen sichern, fokussieren freie Archive oftmals spezifische Themen (wie das LOPA) und erwachsen aus der Zivilgesellschaft heraus. Sie können eine ergänzende (Gegen-) Überlieferung zur staatlichen Perspektive bieten, z.B. wenn sie aus Bürgerbewegungen heraus entstehen. Sie sind somit Ausdruck der Demokratisierung des historischen Gedächtnisses der Gesellschaft. Allerdings ist ihre Situation oftmals prekär, da sie im Gegensatz zu staatlichen und kommunalen Archiven nicht per Gesetz in ihrer Existenz gesichert sind.
Obgleich auch staatliche und besonders kommunale Archive inzwischen den Anspruch erheben, die Gesamtheit des gesellschaftlichen Lebens dokumentieren zu wollen, so fehlt es dennoch an materiellen und personellen Ressourcen, dieses Ziel zu verwirklichen. Daher sind freie Archive ein unentbehrlicher Bestandteil der Archivlandschaft. Trotz ihrer großen Bedeutung werden sie im Rahmen der eher konservativen Archivausbildung kaum thematisiert. Aufgrund dessen war es für uns naheliegend, unsere Exkursion durch neue Eindrücke zu bereichern und in die Mikrokosmen der freien Archive vorzustoßen.
Warum das LOPA? Darum das LOPA!
Um der Diversität der Gesellschaft Rechnung zu tragen, fiel unsere Wahl auf drei sehr unterschiedliche Institutionen: den Infoladen Conne Island als antifaschistisches, autonomes Archiv und Bibliothek, das Archiv Bürgerbewegung als Archiv der DDR-Opposition, der Bürgerbewegung und der 1989/1990 entstandenen Gruppen und Parteien sowie das Archiv der Louise-Otto-Peters-Gesellschaft e.V. als Frauenbewegungsarchiv. Am 7. Oktober 2021 wurden wir im Louise-Otto-Peters-Archiv im Haus des Buches von Vorstandsmitglied und Archivverantwortlichen Constanze Mudra und ihren Kolleg*innen Chihiro Feuerbach-Suto sowie Laura Peter empfangen. Diese stellten uns die Tätigkeit und Geschichte des Vereins und insbesondere des Archivs vor. Aber auch die Schwierigkeiten, vor die das Archiv der Louise-Otto-Peters-Gesellschaft e.V. als freies Archiv gestellt ist, wurden uns dargelegt. Besonders die Finanzierung der Aktivitäten im Allgemeinen sowie der Unterhalt des Archivs im Speziellen, erscheint uns als große Herausforderung, deren Bewältigung wir den höchsten Respekt entgegen bringen. Das Problem der Finanzierung begegnet uns in dieser Intensität im staatlichen Archivwesen kaum. Umso wichtiger ist es, dass wir als staatliche Archivar*innen dafür sensibilisiert werden, dass es insbesondere im Bereich der Erhaltung von nichtstaatlichem und nichtkommunalem Kulturgut große finanzielle Herausforderungen gibt. Besonders beeindruckend fanden wir den starken Fokus der Louise-Otto-Peters-Gesellschaft e.V. auf Öffentlichkeits- und Bildungsarbeit. die z.Z. ausschließlich im Ehrenamt geleistet wird. Diese reicht von diesem Blog, Social Media, über Postkartenserien bis hin zu Publikationen und Veranstaltungen wie Vorträgen und Stadtrundgängen. Auch das archivpädagogische Angebot des LOPA erschien uns bemerkenswert. Davon können wir als staatliche Archivar*innen lernen, wie man trotz begrenzter Mittel qualitativ hochwertige und öffentlichkeitswirksame Ergebnisse erzielt.
Für die interessanten und lehrreichen Einblicke in die Tätigkeit des Louise-Otto-Peters-Archivs möchten wir uns ebenso bedanken wie für die Möglichkeit, die von uns gewonnenen Eindrücke im archiveigenen Blog zu teilen. Wir hoffen, dass der geknüpfte Kontakt bestehen bleibt, gerade weil uns durch die Exkursion nochmal bewusst geworden ist, wie wichtig und gewinnbringend der Austausch und die Kooperation zwischen staatlichen und freien Archiven für beide Seiten ist. Umso wichtiger finden wir es, dass die freien Archive in der Archivbranche stärker wahrgenommen werden und ihre Stimme Gehör findet. Wir wünschen dem LOPA und seinen engagierten Mitarbeiter*innen alles Gute für die Zukunft und freuen uns auf ein Wiedersehen in Leipzig!
Siehe auch
►Exkursionsbericht auf https://www.archivschule.de/ "Große Exkursion des 58. Fachhochschullehrgangs in die Medienstadt Leipzig"
►Instagram-Account des 58. FHL https://www.instagram.com/einsicht.archivschule/
Tags
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Über die Autor*innen
- Christian Möller, Staatsarchiv der Freien und Hansestadt Hamburg
- Raphael Schmitz, Landesarchiv Baden-Württemberg
- Martin Schulz, Sächsisches Staatsarchiv
- Annika Stehle, Landesarchiv Baden-Württemberg
- Ulrich Stevens, Hessisches Landesarchiv
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