Marfa von Sacher-Masoch: „Würde zu geben den Verschmähten…“. Ein queerer Klassiker aus dem Jahre 1925

"Kann ein Gefühl bestraft werden?", fragt der ehemalige Häftling Viktor Soyka, der angeklagt wegen § 175 StGb[1] eine fünfjährige Zuchthausstrafe absitzen musste. Er ist einer von vielen queeren Figuren, die in dem außergewöhnlichen Roman "Würde zu geben den Verschmähten..." aus der Feder von Marfa v. Sacher-Masoch (1887–1963) auftreten. So erscheint z. B. der zierliche Schauspieler Oskar Jähnisch eines Tages bei einer Gesellschaft als Tänzerin verkleidet und führt die anwesenden Männer wie Frauen „Röckchen schwenkend“ und kokettierend an der Nase herum. Diese Art der Maskierung, um nicht zu sagen die Travestie, sei sein Sport:
„Ich habe mich dies Jahr schon unbändig amüsiert. Seit Jahren ist das mein Sport! Und die Verehrung, die mir überall begegnet! Auf dem Kurhaus-Maskenball in Wiesbaden war ich voriges Jahr als Rautendelein[2]! Ganz süß, sehr süß! Alle Herren hinter mir her, und der eine beschlagnahmte mich ganz. Geküßt hat er mich! Ich dachte, die Politur ginge ab, er fand kein Ende. Zum guten Ende nahm er mich mit, und als er soweit war, klopfte ich ihm auf die Schulter und sagte: Na, es sei jetzt spät genug, ich wollte auch schlafen gehen, oder ob er mich wirklich beherbergen wollte? Das Gesicht! Ich mußte flüchten, er hätte mich sonst zerfleischt! Und in Berlin auf dem Bösen Buben-Ball war ich im weißen Matrosenkleidchen und machte meine unschuldigsten Augen. Bin ich da verwöhnt worden! Damen und Herren nahmen mich auf den Schoß, steckten mir Konfekt in den Mund und küßten mich und gaben mir Sekt. Aus den Logen riefen andere: Herauf damit, wir wollen das süße Mädel auch haben." Und ein Herr reichte mich empor, und sie faßten mich von oben beim Kopf und küßten mich ab. Mir war ganz schwindlig, als ich endlich wieder den Boden erreichte. Das entzückendste Spielzeug hatte ich, fünf Teddybären, einen fast so groß wie ich selber! Ich hatte mich für acht Tage müde gelacht und konnte nur mit der größten Anstrengung meine Verehrer loswerden. Ich sicherte endlose Rendezvous zu. Zu einem ging ich wirklich. Er kam zur festgesetzten Stunde, ein paar lose Rosen in der Hand. Als ich merkte, daß er sich schon total versetzt fühlte, und die „Jugend" umgekehrt in der Hand hält, erhebe ich mich, gehe heran und frage mit meiner angenehmen Stimme, ob ich das Blatt haben dürfte? Aufsehen und mich erkennen war eins. Er wurde kirschrot vor Zorn und warf mir wütende Blicke zu. Kann ich denn auch nicht ideal tanzen? Keine Salome kann besser als ich den Tanz der sieben Schleier ausführen, Terpsichore[3] selbst schlägt keine zierlichere Pirouette!“
Dann wäre da noch der Bildhauer Heinz Mylius, der sich zur Tarnung verheiratete und zwei Kinder hat. Seine Gattin ist völlig ahnungslos, dass er "Frauen verabscheut" und sie nur als „Paravent“ nahm.
„Die Beziehung wird ihm nur möglich, wenn er sich Männer vorstellt.“
Die Protagonisten sind jedoch Dr. Barbara Rabitow und Léon Withalm, die zu Beginn des Romans aufeinandertreffen und sich anfreunden. Dr. Barbara Rabitow ist eine junge und erfolgreiche Ärztin bzw. Chirurgin, der im Buch immer wieder als „männlich“ deklarierte Eigenschaften zugeschrieben werden: intellektuell, selbstsicher, unabhängig, kühl, groß, von kräftigem Wuchs und, trotz aller Härte, sehr attraktiv. Sie halte sich aber nie damit auf, darüber nachzudenken, ob sie Mann oder Weib sei:
„Ich bin eben ich, eine Wesenseinheit, die Form ist Nebensache!“
Léon Withalm ist ein aufsteigender Sänger und Bariton am Stadttheater in einer anonymen „deutschen Mittelstadt“, wo sich alles zuträgt. Er ist ein Jüngling von zarter Schönheit, sein Äußeres wird als fein und „verweichlicht“ beschrieben und bildet damit den krassen Gegensatz zu Barbara. Er erfreut sich in den gesellschaftlichen Kreisen zunächst großer Beliebtheit, doch ist es ihm zunehmend zu wider, wie sich die Damen ihm mit ihren Blicken und auch physisch aufdrängen. Sein Ruf als "Frauenhasser" eilt ihm eines Tages voraus bis die Gerüchteküche besagt, dass Léon homosexuell sei. Er streitet es nicht ab, denn er fühlt es selbst und ist überwältigt von seinem Schamgefühl. Fortan wird er von den Menschen, die ihm einst zugetan waren, geschnitten, fallen gelassen und denunziert. Nur Barbara besitzt das Rückgrat die Freundschaft aufrecht zu erhalten, ihm beizustehen und ein Ohr zu leihen. So klagt er:
„Ist denn mein ganzes Leben bis zu dieser Minute nichts wert, weil ein grausames Wort es umwerfen, vernichten kann? Wie kommt die ganze Welt dazu, mich zu hassen, weil meine Regung verquer[4] geht?“
Es folgen zahlreiche Begegnungen und lange, analytische Dialoge zwischen den Beiden, bei denen sie sich näherkommen. Am Ende – und das mutet nach allem, was wir über sie erfahren haben, zunächst seltsam an – gestehen sie sich ihre Liebe füreinander ein. Léon Withalm erklärt jedoch:
"Ich glaube, ich habe Dich gesucht mein ganzes Leben hindurch; unter den jungen Weibern konnte ich Dich nicht finden, unter den Weibern auch nicht, da suchte ich Dich bei den Männern und war wieder falsch gegangen. Da kamst du selbst! Und das weiß ich auch seit dieser Nacht: Nicht die Moral entscheidet, sondern die Liebe, die dem Menschen gilt! Ich musste Dich lieben, Mann oder Weib!"
Der Roman besitzt ganz klar das Potential als queerer Klassiker in den Literatur-Kanon einzugehen. Er kritisiert die offiziellen Moral- und Wertvorstellungen, die alles verurteilen, was fernab der Heteronormativität existiert. In der Liebe zwischen Barbara und Léon werden Geschlechtsidentitäten dekonstruiert – lange bevor die feministische Theorie dazu aufruft. Er klärt auf über Hetero-, Homo- und Bisexualität, Travestie oder Fetischismus, gespickt mit erotischen Sequenzen. Auch von hybriden Frauen und einem dritten Geschlecht ist bereits die Rede. Es wird Bezug genommen auf zeitgenössische Theorien von Sigmund Freud, Magnus Hirschfeld, Anita Augspurg und Ruth Bré.
Marfa von Sacher-Masoch
Bei einem solch außergewöhnlichen Buch stellt sich unweigerlich die Frage: Wer war die Verfasserin, wie hat sie gelebt und geliebt? Leider ist über Marfa von Sacher-Masoch nur wenig bekannt. Sie ist die jüngste Tochter des berühmten österreichischen Schriftstellers Leopold von Sacher-Masoch (1836–1895)[5] und seiner zweiten Ehefrau, der Übersetzerin Hulda Meister. Während seine Biografie und sein literarisches Schaffen hinreichend erforscht sind, wird Marfa nicht einmal in dem Wikipedia-Artikel ihres Vaters erwähnt (der Großneffe aber schon). Dabei war sie eine überaus produktive Schriftstellerin (Werkverzeichnis im Anhang) und ihre Bücher erfreuten sich, in Anbetracht der vielen Wiederauflagen, scheinbar großer Beliebtheit. Diese Rezension regt hoffentlich dazu an, sich mit ihrem Leben und Werk näher auseinanderzusetzen (und ihr vielleicht sogar einen eigenen Eintrag in der Wikipedia zu erstellen #womenintotheblue).
Ein Buch geht auf Reisen
Bei der Suche nach Neuerwerbungen für das Louise-Otto-Peters-Archiv wurde dieses Buch zufällig in einem Leipziger Antiquariat entdeckt, hat aber leider, ausgehend von Entstehungszeit und Thema, keinen Platz bei uns. Deshalb macht es sich heute auf seine Reise zu Katja Koblitz vom Spinnboden Lesbenarchiv und Bibliothek Berlin e.V. (nur einer von vielen netten Kontakten, die zur 55. i.d.a.-Fachtagung vom 27.–29. August 2021 in Berlin geknüft wurden), um für zukünftige Forschungen zugänglich zu sein. Wir freuen uns über jedwede Neuigkeiten die Autorin betreffend.
Werkverzeichnis von Marfa von Sacher-Masoch | M. Coray (Pseudonym) | Marfa Saternus (verheiratet)
- Marfa von Sacher-Masoch: "Würde zu geben den Verschmähten...". Roman, Leipzig: Dr. Sally Rabinowitz Verlag, 1925, 413 S.
- Marfa von Sacher-Masoch: Mascha. Roman, Leipzig: Dr. Sally Rabinowitz Verlag, 1925, 376 S.
- M. Coray: Das zögernde Herz. Roman. Berlin: Ullstein, 1934, 247 S [auch 1940 Im Deutschen Verlag in der Reihe Feldpost-Bücher].
- M. Coray: Frohe Tage – unvergessen. Roman, Berlin: Ullstein, 1936, 245 S.
- M. Coray: Der Schuß in Jagen 13. Kriminalroman, Berlin: Ullstein, 1936, 237 S.
- M. Coray: Der Zaungast, Berlin: Im Deutschen Verlag, 1937, 244 S.
- M. Coray: Liebe schwärmt auf allen Wegen. Roman, Dresden: Neuer Buchverlag, 1938, 320 S.
- M. Coray: Gela und die Sonderlinge, Berlin: Im Deutschen Verlag, 1938, 243 S.
- M. Coray: Die Hochsteins von Oberau, Dresden: Neuer Buchverlag, 1939, 320 S.
- M. Coray: Der Blick in die fremden Fenster. Roman, Dresden: Neuer Buchverlag, 1939, 320 S.
- M. Coray: Die spröde Isabel (= Uhlen-Bücher, Bd. 175), Berlin: Im Deutschen Verlag, 1940, 244 S.
- M. Coray: Neun gehören dem Wind, Berlin: Im Deutschen Verlag, 1941, 256 S.
- M. Coray: Der Sprung über das Feuer, Berlin: Fischer Verlag, 1942, 144 S.
- M. Coray: Die seltsame Fügung (= Mignon-Romane, Nr. 25), Dresden: Mignon-Verlag, o. J., 32 S.
Anmerkungen
[1] Der § 175 wurde 1872 in das Strafgesetzbuch aufgenommen und kriminalisierte männliche Homosexualität. Während der Paragraph in der DDR erst geschwächt und 1968 komplett gestrichen wurde, galt er in der BRD bis 1994. Zum Weiterlesen: : https://www.regenbogenportal.de/
[2] Figur aus Gerhart Hauptmanns Versdrama „Die versunkene Glocke“, Elfisches Märchenwesen, das durch ihren Zauber und Küsse zu heilen vermag.
[3] Muse des Tanzes und des Chorgesangs
[4] Die Wortwahl ist bemerkenswert und nimmt das heutige „queer“ vorweg.
[5] Leopold v. Sacher-Masoch setzte sich in seinem literarischen Werk mit triebhaften Schmerz- und Unterwerfungsverlangen auseinander und wurde damit (unfreiwillig) Namensgeber für den Begriff "Masochismus".
Über die Autorin
Constanze Mudra, Kunsthistorikerin M.A., ist Vorstandsmitglied der Louise-Otto-Peters-Gesellschaft e.V. und Ansprechpartnerin für das Louise-Otto-Peters-Archiv. Privat sammelt sie Übersetzungen aus dem Englischen sowie Krimis bis 1945 von Schriftstellerinnen.
Kontakt: constanze.mudra@louiseottopeters-gesellschaft.de
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