Adresse eines Mädchens

an den hochverehrten Herrn Minister Oberländer, die durch ihn berufene Arbeiter-Commission und an alle Arbeiter

 

Meine Herren!

Indem ich mir erlaube, eine Adresse an Sie zu richten, welche weiter keine Unterschrift trägt, als den einfachen Namen eines Mädchens, so kann diese Freiheit nur entschuldigt werden durch das unbegrenzte Vertrauen, welches ich in das hohe Ministerium des Innern setze, durch die Wichtigkeit, welche ich der Arbeitercommission beilege, und durch den Antheil, welchen ich von jeher an dem Loose der arbeitenden Klassen genommen habe.

Meine Herren! mißverstehen Sie mich nicht: ich schreibe diese Adresse nicht trotzdem, daß ich ein schwaches Weib bin – ich schreibe sie, weil ich es bin. Ja, ich erkenne es als meine heiligste Pflicht, der Sache derer, welche nicht den Muth haben, sich selbst zu vertreten, vor Ihnen meine Stimme zu leihen! Sie werden mich auch deshalb keiner Anmaßung zeihen können, denn die Geschichte aller Zeiten hat es gelehrt und die heutige ganz besonders, daß diejenigen, welche selbst an ihre Rechte zu denken vergaßen, auch vergessen wurden. Darum will ich Sie an meine armen Schwestern, an die armen Arbeiterinnen mahnen!

Meine Herren – wenn Sie sich mit der großen Aufgabe unsrer Zeit: mit der Organisation der Arbeit beschäftigen, so wollen Sie nicht vergessen, daß es nicht genug ist, wenn Sie die Arbeit für die Männer organisiren, sondern daß Sie dieselbe auch für die Frauen organisiren müssen.

Sie wissen es alle, daß unter den vorzugsweise sogenannten arbeitenden Klassen die Frauen so gut wie die Männer für das tägliche Brod arbeiten müssen. Ich will mich hier nicht dabei aufhalten, nachzuweisen, wie, weil die Frauen nur zu wenig Arten von Arbeiten zugelassen sind, die Concurrenz in denselben die Löhne so herabgedrückt hat, daß wenn man das Ganze im Auge behält, das Loos der Arbeiterinnen noch ein viel elenderes ist als das der Arbeiter. Sie werden es Alle wissen, daß es so ist, und wenn Sie es noch nicht wissen, so setzen Sie Commissionen auch dafür ein, die es Ihnen werden bestätigen müssen. Nun kann man zwar sagen: wenn die Männer künftig besser als jetzt bezahlt werden, so können sie auch besser für ihre Frauen sorgen und diese sich der Pflege ihrer Kinder widmen, statt für Andere zu arbeiten. Einmal fürcht‘ ich, wird das Loos der arbeitenden Klassen nicht gleich in diesem Maße verbessert werden können und dann bleibt immer noch die große Schaar der Wittwen und Waisen, auch der erwachsenen Mädchen überhaupt, selbst wenn wir die Frauen und Mütter ausnehmen. Ferner heißt dies aber auch, die eine Hälfte der Menschen für Unmündige und Kinder erklären und von der andern gänzlich nur abhängig machen. Es heißt dies, um es gelind herauszusagen, die Sittenlosigkeit, das Verbrechen begünstigen: Ein Mädchen, das ihr Dasein als Arbeiterin nur kümmerlich fristen kann, wird ihr ganzes Bestreben darauf richten, einen Mann zu bekommen, durch den sie dieser Sorgen enthoben wird – ist sie schon verderbt, so giebt sie sich aus Berechnung dem ersten besten Mann hin, damit er sie, wenn auch nicht um ihrer selbst, doch um ihres Kindes willen heirathe – oder wenn sie auch nicht so tief gesunken, heirathet sie doch den ersten besten, gleichviel ob sie ihn liebt oder sie zueinander passen. – Auf alle Fälle wird die Zahl der unglücklichen, unmoralisch, leichtsinnig geschlossenen Ehen, der unglücklichen Kinder und der unglücklichsten Proletarierfamilien auf eine bedenkliche Weise gerade dadurch vermehrt, daß das Loos der alleinstehenden Arbeiterinnen ein so trauriges ist. Ich habe hier noch gar nicht auf die schlimmste Folge des weiblichen Proletariats aufmerksam gemacht – es ist die Prostitution. Ich erröthe, daß ich dies Wort vor Ihnen nennen muß – aber mehr noch als darüber erröthe ich über die socialen Zustände eines Staates, der Tausenden seiner armen Töchter kein anderes Brod zu geben vermag, als das vergiftete eines scheußlichen Gewerbes, das sich auf das Laster der Männer gründet! –

Meine Herren! im Namen der Moralität, im Namen des Vaterlands, im Namen der Humanität fordere ich Sie auf: Vergessen Sie bei der Organisation der Arbeit die Frauen nicht!

Sie, verehrter Herr Minister, werden sie nicht vergessen, denn Sie haben ein Herz für alle Leiden des Volks. – Sie haben an die armen verhungernden Klöpplerinnen, an den allgemeinen Nothstand schon damals gedacht, als Ihr prophetisches Wort, daß es, wenn es so fortgehe wie bisher, nur noch hundert Reiche und Millionen Arme geben werde, innerhalb der Kammer spurlos verhallte und nur draußen in die dankbaren Herzen der Armen und ihrer Freunde fiel!  Auch das Loos der armen Arbeiterinnen werden Sie jetzt in Ihre – und darum in die besten Hände nehmen und werden auch mir nicht zürnen, daß ich meine schwache Stimme für einen Theil des Volks erhob, der es noch nicht gewagt, seine Interessen selbst zu vertreten. –

Und Sie, meine Herren, die Sie zur Prüfung und Regelung der Arbeiterverhältnisse mit berufen sind – denken Sie auch an das schwächere Geschlecht, das, weil es sich nicht selbst zu helfen vermag, ein unveräußerliches Recht hat, diese Hilfe von Ihnen, dem stärkeren Geschlecht zu fordern! Vergessen Sie auch die Fabrikarbeiterinnen, die Tagelöhnerinnen, die Klöpplerinnen, die Strickerinnen und Nähterinnen u. s. w. nicht – fragen Sie auch nach ihrem Verdienst, nach dem Druck, unter dem sie schmachten, und Sie werden finden, wie nöthig hier Ihre Hilfe ist.

Und auch für Sie, meine Herren, auch für Sie, die ganze große Schaar der Arbeiter, habe ich diese Adresse geschrieben! Auch an Sie richte ich meine Worte. Sie haben als das stärkere Geschlecht die Pflicht, sich des schwächeren anzunehmen! Sind es nicht Ihre Frauen, Schwestern, Mütter und Töchter, deren Interessen es zu wahren gilt, so gut wie Ihre eigenen? – Statt dessen hat es in Berlin geschehen können, daß die Fabrikarbeiter, die eine Verbesserung ihres Lohnes begehrten, darauf drangen, daß aus den Fabriken alle Frauen entlassen würden! – Das ist ein Mißbrauch des Rechts des Stärkeren! – Arbeiter, ich bin überzeugt, die Mehrzahl von Ihnen ist von einem andern Geiste erfüllt! Was soll aus den brodlosen Frauen werden? Nein! geben Sie nicht zu, daß das Elend fortan Ihre Töchter zwingt, noch ihr einziges Besitzthum – ihre Ehre – weil man ihre Arbeitskraft verschmäht, an den lüsternen Reichen zu verkaufen – dulden Sie nicht ferner, daß diese Schande im Geleit der Armuth ist! Denken Sie nicht nur daran, wie Sie sich selbst, sondern auch wie Sie Ihren Frauen und Töchtern Brod verschaffen können! –

Ich bin gewiß, meine armen Schwestern theilen meine Gefühle, aber ihre Tage gehen so in Not und Stumpfheit dahin, daß sie nicht wagen – wie es die Männer thun – ihre Bitten und Wünsche öffentlich auszusprechen. So habe ich dies allein für sie zu thun gewagt, durch das einzige Mittel, durch das es mir möglich ist, eine Wirkung für das Allgemeine wenigstens zu versuchen – durch die Presse. Ist es mir gelungen, Ihre Aufmerksamkeit auf die Lage der armen Arbeiterinnen gelenkt zu haben, so ist der Zweck dieser Zeilen erreicht. *)

Meißen,                                                                                             Louise Otto
 

*) Allen Redaktionen von Zeitschriften, welche diesem Artikel Raum in ihren Spalten gönnen, werde ich dankbar sein. L. O.